In dem vierzeiligen Vorwort seines irischen Tagebuchs informiert Heinrich Böll den Leser, dass es das von ihm beschriebene Irland gäbe. Wer aber hinfahre und es nicht finde, habe keine Ersatzansprüche an den Autor.
Das ist nun über ein halbes Jahrhundert her. Die Autobahn Richtung Westen ist gut geteert und in Maßen mautpflichtig. Selbst im Winter habe ich keine so überschwemmten Wiesen gesehen, dass Bauern darauf hätten paddeln können. Statt Boote mühen sich starke Traktoren durch den Matsch der Felder.
Wie Böll hatten auch wir irgendwo im Westen ein Haus gemietet und fuhren vorbei am Grün der Wiesen ins Ungewisse. Je weiter wir uns von Dublin entfernten, desto einsamer und dunkler wurde die Fahrt. Um halb fünf war es im Dezember finster und die komfortable Autobahn ging in eine schmale Landstraße über. Nur die weihnachtlich aufwendig beleuchteten Häuser gaben uns Gewissheit, dass hier Menschen lebten.
Nein, ein verlassenes oder gar entvölkertes Land haben wir nicht vorgefunden, dafür verlassene Feriensiedlungen, aber auch da war nicht das Moos, das Böll als Pflanze der Resignation und Verlassenheit gesehen hatte. Dieses Moos fanden wir erst in den Skeletten alter Herrenhäuser: Alles, was nicht Stein war, weggefressen von Wind, Sonne, Regen und Zeit.
Zur Besichtigung ausgesucht hatte ich zwei repräsentative Landsitze aus dem 18. Jahrhundert. Es hieß, sie seien einst europaweit für ihren Meerblick mit prächtigen Sonnenuntergängen bekannt gewesen: Tyrone House and Ardfry House. Beides heute von Pflanzen und Tieren zurückeroberte Ruinen – kalt und schmucklos nicht zur Verklärung geeignet.
Ardfry, Baujahr 1770, ist eine zweistöckige Ruine mit je neun offenen Fensterbuchten und zwei großen erhöhten Pavillons an beiden Enden. Bei einer Renovierung im Jahre 1826 waren gothische Elemente hinzu gekommen, von denen die Steinsäulen des ehemaligen Wintergartens gut erhalten sind. Bewohnt wird Ardfry heute von Füchsen und Vögeln, die sich in der Ruine vor dem Wind zu schützen wissen.
Ehemalige exzentrische Bewohner bieten dem Anwesen heute Stoff für Erzählungen. So soll die zweite Ehefrau des vierten Lord of Wallscourt das ganze Vermögen und zuletzt die Dachziegel verspielt haben. Schließlich wurde Ardfry für eine Filmsequenz bei The Mackintosh Man gedeckt, mit Fenstern ausgestattet und angezündet. Paul Newman entkam den Flammen.
Tyrone House wurde vom Architekten John Roberts entworfen und 1779 von dem Unternehmer Christopher French St. George gebaut. Es hat drei Stockwerke mit je sieben Fensterbuchten. Wie viele irische Familien wanderten die Georges Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Von ihren Geschichten ist jede Spur aus Tyrone verschwunden. Heute verbietet ein Schild den Zutritt zur Ruine: Wegen Einsturzgefahr.
Architekturgeschichtlich wird Tyrone House dem Palladianismus zugeordnet. Noch heute erkennbares Stilelement sind die Venezianischen Fenster im Zentrum der Fassade. Ecksteine, Fensterrahmen, Balustraden und alles was einer Leidenschaft für Schönheit und Kunstfertigkeit bei der Inneneinrichtung geschuldet war, soll im Laufe der Zeit verschwunden sein. Wie bei Ardfry flüchten schwarze Vögel vor Besuchern.
#clapf
Zitate: Irisches Tagebuch, Heinrich Böll 1957
Innenschau: Grüne Insel, Die drei O’s ab 1958
Inspiration I: Fotogalerie Irland von Nicolai Beuermann
Inspiration II: Fotogalerie Ardfry House
Inspiration III: Fotogalerie Tyrone House