Kafkaesk mit Lösung: Zustellung des Urteils an ein Gespenst

Eines Tages konnte ich keinen Kontakt mehr aufnehmen, was mich auch nicht weiter gestört hätte, wenn die Verbindung wirklich tot gewesen wäre. Tatsächlich klapperten da aber noch meine Schlüssel, die mir nicht zurückgegeben worden waren.

nach der Geisterstunde

Exponat I


Ein überquellender Briefkasten mit unbezahlten Rechnungen vor einer leeren Wohnung ist ein sicheres Zeichen dafür, dass jemand verschwunden ist. Ein ordentlich geleerter Briefkasten und eine vollgestellte Wohnung deuten auf den Einzug eines Gespensts. Klopfen nützt nichts. Briefe müssen zugestellt werden und um diese Zustellung zu verhindern, entfernen manche Geister ihren Namen von Klingelschild und Briefkasten. Dann ist der Spuk perfekt. Mit den üblichen formellen Zaubersprüchen beginnt eine Geisterjagd.

Professionelle Geisterbeschwörer sind teuer und nehmen nicht immer den preisgünstigsten Weg, sie überwachen zum Beispiel nicht die Zustellung ihrer teuer formulierten Beschwörungen: Zuerst die Kündigung, dann die Einladung zu einem persönlichen Gespräch und zuletzt die offizielle Aufforderung zu gehen. Landet nur einer dieser Briefe nicht ordnungsgemäß im Briefkasten darf nicht gehandelt werden und Zeit ohne Handeln kostet Geld: Autsch. Solange aber das Gespenst am Ort gemeldet ist, gibt es kein Gesetzt gegen ein Anbringen von Klingelschildern. Im Morgengrauen hilft kein Anwalt. Es sind eher die Unscheinbaren, die sich zu früher Stunde mit farbigen Briefen und Aktenmappen Zugang verschaffen. Wir bemerkten uns und wussten, warum wir da waren.

Vollstrecker und Schlosser machten sich sogleich aus dem Staub, sobald die Tür offen war und die erste Begehung zur Wertschätzung der zurückgelassenen Habseligkeiten begann. Die Dinge waren fremd ja unheimlich, sie gehörten mir nicht. Ohne dass ich sie haben wollte, haben sie sich mir aufgedrängt: Ein Degustierset, ein Bild von Jesus und seinen Jüngern beim Abendmahl, eine Kartoffelpresse, ein Sieb, zwei Taschen und mehrere Töpfe. Unfreiwillig war ich Eigentümerin geworden. Ich fotografierte die Dinge und verpackte sie in Kisten. Dann hob ich die Decke vom weißen Sofa und kreischte wegen eines Haufens kleiner, grauer Silberfischchen, die dort wie in einem Nest schliefen. Im Licht wanden sie sich und flüchteten flink in die offenen Fugen des Dielenfußbodens. Der Rest sah auch nicht besser aus: Ein Schock hier, ein Erschrecken da und unter den Haufen krabbelte es gewaltig.

liegen gelassen

Exponat II


Zu Hause betrachtete ich die Fotos und erinnerte mich an das Exponat einer Ausstellung über Leben und Sterben. Ein Glaskasten war durch eine Trennwand in zwei Räume unterteilt worden. Auf der einen Seite stand eine Kamera auf einem Stativ. Ich konnte durch sie hindurch auf die andere Seite schauen, aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Auf der anderen Seite waren weiße Turnschuhe, eine Jeans und ein Sweat-Shirt. Der Mensch war verschwunden. Socken und Unterhosen hatte er mitgenommen. Die Kamera dokumentierte die Abwesenheit, indem sie die Anwesenheit der Kleidungsstücke in Szene setzte. Damals war ich mehrmals um den Kasten herumgegangen und hatte nichts empfunden. Heute saß ich vor einem Foto, erinnerte mich an das Exponat und fröstelte.
#clapf

Inspiration: Fotos von Nicolai Beuermann

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.